Waisen und kranke Kinder von Zaporoshye, Ukraine
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Dass es dich gibt

Kurz vor Lottas Geburt wurde in ihrem Gehirn eine Fehlbildung entdeckt. Ihre Mutter schreibt hier von Momenten tiefer Verzweiflung. Und großen Glücksgefühlen

Autor: Sandra Roth, www.zeit.de
Veroffentlicht am: 2013-02-12 14-00-00   Counter: 6636
  
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Lotta kann krabbeln, sagt ihr großer Bruder Ben. Im Geheimen. Im Geheimen kann Lotta, zwei Jahre alt, so einiges: sitzen, sehen, »Mama« sagen. Meine Tochter hat geheime Superkräfte, die nur ihr vierjähriger Bruder kennt. Der Rest der Welt sieht sie anders: als Vena-Galeni-Kind, körper- und sehbehindert. Ihre Krankengeschichte lagert in einem dicken roten Ordner, bald müssen wir einen zweiten kaufen, so voll ist er schon. Ben sagt, es macht nichts, falls Lotta später mal einen Rollstuhl kriegt, »aber schieben darf nur ich den«. Außerdem könne sie ja immer noch fliegen.

Im Sportverein. Ben rennt mit den anderen Kindern um die Wette, ich trinke Latte macchiato und lasse Lotta auf meinen Knien reiten. Sie grinst. Eine andere Mutter:

»Wann hat man das denn festgestellt?«

»Die Fehlbildung? Im neunten Monat, 33. Woche.«

»War es da zu spät?«

»Wofür?«

»Um was dagegen zu machen.«

»Das kann man nicht im Mutterleib operieren.«

»Nein, aber...«

Das Wort »abtreiben« spricht sie schon nicht mehr aus.

Warum gibt es dich, Lotta? Ein behindertes Kind, das muss in Deutschland heute doch nicht mehr sein. Dafür gibt es Vorsorgeuntersuchungen, Pränataldiagnostik, Abtreibungen, notfalls Spätabtreibungen. Und doch werden in Deutschland immer noch behinderte Kinder geboren. Laut Statistischem Bundesamt haben 2009, in dem Jahr, in dem Lotta geboren wird, 365 Babys unter einem Jahr einen Schwerbehindertenausweis aufgrund einer angeborenen Behinderung. Lotta ist keins von ihnen, wir beantragen den Ausweis erst später, so wie viele andere Eltern. Schaut man sich die entsprechende Zahl für die Kinder unter fünf Jahren an, liegt sie bereits bei 6.881. Lotta und Ben tragen in Wirklichkeit andere Namen, weil ich sie schützen möchte, aber ihre Geschichte steht stellvertretend für die vieler Kinder.

19. Oktober 2009. Ich küsse Ben, damals zwei Jahre alt, zum Abschied auf den Kopf. »Mama geht zum Arzt, das Baby angucken.« Noch sieben Wochen bis zum errechneten Geburtstermin. Meine größte Sorge ist jetzt der blaue Strampler, den ich gestern für Lotta gekauft habe. In der Mädchenabteilung, mit Schleifen, aber dunkelblau. Sorgen haben wir zu dieser Zeit selten, mein Mann Harry und ich, wir sind beide Journalisten, er 43, ich 32 Jahre alt, gesund, zufrieden. Wenn es Streit gibt, dann darüber, ob wir in der Küche geöltes Parkett verlegen sollten. Ansonsten ist es ein Leben in Technicolor, so kommt es mir in der Rückschau vor. Wir sind Familie »Sonnenschein«, so haben unsere Mütter uns genannt, so rufen wir auch unseren Sohn. Auch die zweite Schwangerschaft ist geplant, es wird ein Mädchen.

Beim Routine-Ultraschall stutzt die Gynäkologin Stefanie Hamm. Sie sieht »sehr viel Blut im Hirn. Sie fahren jetzt in die Uniklinik.« Ich rufe Harry an, er bringt mich mit einem Taxi ins Krankenhaus, äußerlich bleiben wir beide ruhig. Die Arzthelferin wird später sagen: »Sie wirkten so gefasst, Sie haben gar nicht geweint.« Ich erlebe das Geschehen um mich herum wie durch eine Wand, als beträfe es mich nicht, starr vor Schock. Durch die innere Stille dringt nicht der Taxifunk, nicht das Zufallen der Autotür, als wir im Krankenhaus ankommen. Ich höre nur mein eigenes Stoßgebet: Es wird alles gut gehen, es ist immer alles gut gegangen, es muss, es darf nichts Schlimmes sein. Ich werde erst fünf Tage später wieder nach Hause kommen.

In der Uniklinik Köln lege ich mich auf eine Liege, darum im Halbdunkel etwa 15 Personen: der Leiter der Kinderklinik, Oberärzte, Assistenzärzte. Ich halte die Hand meines Mannes, als mir jemand kaltes Ultraschall-Gel auf den Bauch spritzt und die Bilder von dem Baby in meinem Bauch auf dem Monitor aufflackern. Blau und rot der Blutfluss, zu viel Blau und Rot. Das Bild verschwimmt, mir steigen Tränen in die Augen, ich dränge sie zurück. Jetzt beobachten, begreifen. Die Ärzte beraten sich auf dem Flur. Mein Mann streckt mir ein Brötchen entgegen: »Du musst was essen.« Ich nehme einen Bissen und schmecke nichts. Als wieder alle im Raum sind, erläutert ein Arzt Lottas Befund: »Malformation der Vena Galeni.« Es wird lange dauern, bis wir verstanden haben, was das bedeutet. Auf etwa 1:25.000 wird das Risiko für ein Kind mit Vena-Galeni-Malformation geschätzt, das heißt, in Deutschland werden pro Jahr etwa 27 Babys mit dieser Fehlbildung geboren. Bei vielen bleibt sie bis zur Geburt unentdeckt. Einige haben so einen geringen Schaden, dass er erst auffällt, wenn sie nach dem Robben nicht das Krabbeln lernen. Bei anderen verschlechtert sich der Zustand bald nach der Geburt. Manche sterben.

Ein Arzt klemmt die Folie mit Lottas MRT-Bild auf einen Leuchtkasten. Er zeigt uns auf der Folie einen dunklen Fleck in Lottas ansonsten grauem Gehirn, etwa so groß wie eine 20-Cent-Münze. Die Vena Galeni ist eine der Hauptvenen im Gehirn. Der schwarze Fleck ist ein Kurzschluss zwischen einer Arterie und dieser Vene. Normalerweise fließt das sauerstoffreiche Blut durch die Arterie zum Gehirn, gibt dort den Sauerstoff ab und fließt danach durch die Vene wieder zurück zum Herzen, bei unserem Baby geht es von der Arterie direkt in die Vene. Das sauerstoffreiche Blut nimmt eine Abkürzung – am Gehirn vorbei. Und weil dieser Weg weniger Widerstand bietet, fließt immer mehr Blut zurück, sackt die Ader weiter aus. Das Herz schlägt schneller und schneller, pumpt und pumpt und pumpt beim Versuch, das Hirn doch noch mit ausreichend Blut zu versorgen, pumpt so lange, bis es kollabiert. Lottas Herz schlägt in der Ruhe des Bauches schon jetzt, als joggte sie, und es wird immer schneller schlagen, wenn wir nichts unternehmen.

»Wir schaffen das«, sagt mein Mann schnell. Er hat mehr Erfahrung mit Schicksalsschlägen als ich. Lange bevor wir uns kennengelernt haben, ist seine Mutter gestorben, an Krebs, da war er 29. »Ja, wir schaffen das!«, sage ich und versuche, es zu glauben.

Vor dem Gedankenspiel »Was wäre, wenn...« haben wir uns immer gedrückt. Wenn unser Baby mit hoher Wahrscheinlichkeit behindert wäre – würden wir abtreiben? Freundinnen haben abgetrieben, weil der Mann der Falsche war. Oder weil eine Behinderung drohte. Wir haben eher die Mütter bedauert als die ungeborenen Babys. Kinder gibt es viele in unserem Freundeskreis, behinderte Kinder nicht. Körperlich oder geistig Behinderte sehen wir ab und zu auf der Straße und sehen sie doch nicht. Ich will nicht starren und schaue lieber weg.

Später, in einer anderen Klinik, sagt uns ein Arzt: »Da muss man chirurgisch dran, den Kopf aufschneiden. Ausgang ist fast 100 Prozent letal, und falls es überlebt, dann äußerst schwer behindert, darauf müssen Sie sich einstellen.« Als er zur Tür raus ist, schreie ich die Verzweiflung heraus. Klappe vornüber, schreie in Harry hinein, der seine Arme um mich legt, schreie so laut, dass eine Assistentin hereineilt und mir Valium anbietet. Der Arzt lag falsch, die chirurgische Methode ist längst veraltet, das erfahren wir erst einige Tage später. »Wenn Sie sagen, dass Sie sonst vom Dach springen, finden Sie noch einen, der es wegmacht«, höre ich von einem anderen Arzt. Abtreiben – das hieße im neunten Monat aktiv töten. Eine Kaliumchlorid-Spritze ins Herz meines Babys, das ich dann tot auf die Welt bringen müsste.

Als ich endlich nach Hause komme, steht Ben in seinem blau-weiß gestreiften Schlafanzug in der Tür. Prüfend schaut er in meine roten Augen, runzelt die Stirn. Ich sage: »Mama ist traurig, weil das Baby krank ist.« Ben hebt meinen Pulli hoch, pustet auf den nackten Bauch und fragt: »Wieder heile?«

Lotta ist kein »es«, das man wegmachen kann. Wir können doch nicht die kleine Schwester töten, die Bens Küsse auf meinen Bauch schon mit Tritten beantwortet. Es gibt noch Hoffnung, sagen andere Ärzte: »Sie hat eine gute Chance.« Daran klammern wir uns. Wenn Ben ins Bett geht, kommt die Angst. Abends sitzt mein Mann am Esstisch und recherchiert im Internet. Ich sitze auf dem Sofa, in die Wolldecke gewickelt, und versuche, nicht an den schwarzen Fleck in Lottas Kopf zu denken. Wird unser Baby überleben? Wenn ja, wie? Gibt es ein Leben, das schlimmer ist als der Tod? Die Fragen sind so groß, dass ich sie nicht über die Lippen kriege, sie bleiben als dumpfes Gefühl im Magen hängen. Abends wird es sehr still bei uns. Stumm starren wir beide auf meinen gewaltigen Babybauch. Lottas Tritte machen mir keine Freude mehr, sie machen mir Angst.

Bald wissen wir, wo die Experten sitzen: in Paris, London – und Duisburg. In Duisburg-Wedau erwarten uns ein Betonklotz von einer Klinik und die Hoffnung in Gestalt von zwei Männern, die uns durch die nächsten Jahre begleiten werden: der Kinderarzt Axel Feldkamp, graue Locken, weiße Schlappen, der seine Worte so sorgfältig wählt, dass er in zwei Jahren nicht ein einziges zurücknehmen muss. Und Professor Friedhelm Brassel, für Fälle wie unseren der Beste in Deutschland, wie jeder sagt, bei dem wir nachfragen. Brassel nennt Lottas Befund »beeindruckend«, drei Stunden lang referiert er bei unserem ersten Treffen über sein Spezialgebiet als Radiologe. Er beschreibt uns die winzigen Katheter und erzählt von ehemaligen Patienten, die gut in der Schule sind, die am Telefon nicht mit ihm reden wollen, sondern raus auf den Fußballplatz. Lotta könnte eine von ihnen sein, hoffen wir, auch wenn Brassel uns das nicht versprechen kann.

Der Kinderarzt Axel Feldkamp bremst uns. »Manche Kinder entwickeln sich prima, andere nicht«, sagt er. »Es kann sein, dass sie geboren wird und alles schnell vorbei ist, weil ihr Herz versagt. Und wenn nicht: Ich schaue mir das Hirn nach der Geburt an. Wenn es zu arg gelitten hat und es keinen Sinn mehr hat, dann sage ich Ihnen das. Dann gehe ich diesen Weg mit Ihnen.« Die Wörter »sterben« oder »sterben lassen« fallen nicht und sind doch da. Wir planen eine Geburt, und ich muss schon an die Bestattung denken.

Am Grab meiner Schwiegermutter stellen wir regelmäßig frische Blumen auf. Dort soll Lotta liegen, wenn es zum Schlimmsten kommt. Ich versuche mich zu wappnen gegen den Tod meines Babys, mit einem Plan: Wo, wie, welches Schmusetier kommt mit ins Grab? Ich halte mich an das Gegenständliche, um nicht an das große Ganze denken zu müssen.

23. November 2009. Lotta ist da und schreit und strampelt, und ihr Herz kollabiert nicht. Wir lassen sie direkt taufen. Zwischen den blinkenden Monitoren der Kinderintensivstation zündet die Seelsorgerin die Taufkerze an, Lotta öffnet die Augen. Nach 24 Stunden wird sie zum ersten Mal operiert.

Bei der OP oder genauer der Embolisation werden per Mikrokatheter kleine Platinspiralen in Lottas Gehirn gesetzt, die die Blutzuflüsse verstopfen. Die sogenannten Coils setzen sich an die Wand der Ader und vernarben dort – weniger Blut kann den falschen Weg nehmen. Als würde man einen Sumpf trockenlegen, wird so der Blutfluss nach und nach weniger. Bis zu 16 Stunden liegt Lotta in Vollnarkose, während Professor Brassel per Hand durch kleine Einstiche in den Hüften die Katheter in ihren Körper einführt und durch die winzigen Blutbahnen bis in den Kopf lenkt. Jedes Zittern ist eine Gefahr, jeder Schritt abgesichert durch Röntgenaufnahmen.

Das Wunder passiert: Nur zehn Tage nach der Geburt dürfen wir nach Hause. Lotta sieht so gesund und rosig aus wie jedes Baby, sie kann Beine und Arme bewegen, sie trinkt an meiner Brust, schmatzt, gähnt. Sehr schnell kommt ihr Herz ohne Medikamente aus. Wir sehen schon das Happy End.

Das Wort »Behinderung« nehmen wir lange nicht in den Mund. »Das B-Wort«, sagt mein Mann. Als brächte es Unglück, es auszusprechen. Als wir im Urlaub im niederländischen Domburg einen etwa zehnjährigen Jungen im Rollstuhl sehen, festgeschnallt, die Arme rudernd in der Luft, Sabber in Strömen, starren wir hin. »Schau dir die Eltern an«, sagt mein Mann, »so selbstbewusst.« Ich sehe den Jungen an und denke: »Ich weiß nichts über solche Kinder.« Findet er es schön am Meer? Was hat er vom Strand, wenn er nicht im Sand buddeln kann? Was, wenn wir in ein paar Jahren wie die Eltern dort am Strand sitzen und Lotta keine Schaufel halten kann?

Lotta öffnet ihre Hände nicht, streckt die Beine oft kerzengerade durch, anstatt zu strampeln. Ihre riesigen Augen scheinen alles zu sehen, aber ihr Blick bleibt nirgendwo haften. Verdacht auf zerebrale Bewegungsstörung, heißt es, Verdacht auf eine Sehstörung. Wir erfahren, wie erschreckend wenig man bislang über das Gehirn weiß. »Es ist eine Blackbox«, sagt Axel Feldkamp. »Es kann sehr viel kompensieren, aber Vorhersagen kann niemand treffen.« Abwarten, heißt es, was Lottas Gehirn aus dem macht, was es hat. Fördern und warten, warten und fördern. Jahrelang. Es könnte auch einfach eine gewaltige Entwicklungsverzögerung sein, sagen die Ärzte, und das sagen wir allen, die uns fragen: »Lotta lernt wohl erst mit drei Jahren laufen statt mit einem.«

Lotta schreit scheinbar ohne Grund, stundenlang. Oma puzzelt mit Ben, während ich Lotta wiege. Im Dunkel des Schlafzimmers, zum klimpernden Guten Abend, gute Nacht der Spieluhr kommen die Zweifel. Wird Lotta ihr Leben genießen, auch wenn sie vielleicht nie richtig sehen oder laufen kann? Werde ich mein Leben lang Windeln wechseln? Und was ist mit Ben? Wird er bei all den Sorgen um seine Schwester nicht hinten runterfallen? Warum wir?

Weil wir eine starke Familie sind, sagen Freunde: »Lotta ist zu den Richtigen gekommen, ihr schafft das.« Feldkamp sagt: »Wir haben hier viele Eltern behinderter Kinder, die meisten finden viel Kraft in sich.« In meinen Ohren klingt das fast zynisch. Schaffen und Kraft fühlt sich anders an, zu wenig Schlaf, zu viele Sorgen.

»Ihr müsst es annehmen«, hat uns ein enger Freund gesagt, als wir ihm von unserer Angst erzählt haben, dass Lotta behindert sein könnte. »Annehmen« – wie soll das gehen?

In der Badewanne. »Alle meine Entchen schwimmen auf dem See...«

Plötzlich schmiegt Lotta ihren Kopf in meine Hand, zieht die Mundwinkel nach oben. Das erste bewusste Lächeln.

»Oh, Lotti, du kannst ja lächeln!«

Sie lächelt, ich weine. An diesem Abend bleiben wir in der Badewanne, bis wir ganz schrumplig sind.

Bei Ben mussten wir sechs Wochen auf diesen Moment warten, bei Lotta sechs Monate. Sechs Monate, in denen ich am Ende gefürchtet habe, dass sie nie lächeln wird. Ein Augenblick ändert alles. Lotta wird das Zentrum, um das wir kreisen. Ben kann gar nicht aufhören, mit ihr zu spielen, legt sich zu ihr und singt: »Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst...« Wir singen alle mit.

Lotta kann lächeln. Wird sie eines Tages auch sitzen und einen Löffel halten können?

Eine Odyssee beginnt. Morgens, wenn Ben im Kindergarten ist, sitze ich bei Neurologen, Orthopäden, Augenärzten, Kardiologen, Logopäden, Physiotherapeuten. Meinen Wiedereinstieg in den Beruf verschiebe ich, wir haben Glück, dass das finanziell kein Problem ist. In zwei Jahren wird Lotta fünf Mal von Professor Brassel operiert. Ihre Gefäßfehlbildung zieht eine Reihe anderer Erkrankungen nach sich. Unser Körper funktioniert nur richtig, wenn er sich bewegt – tut er das nicht, werden Gelenke, Sehnen oder die Verdauung zum Problem. Insgesamt verbringen sie und ich über drei Monate im Krankenhaus.

In dieser Zeit sehe ich nur einen einzigen Vater, der alleine sein Kind ins Krankenhaus begleitet. Es heißt nicht umsonst »Mutter-Kind-Zimmer«, Männer sind Besucher. Wir Frauen sitzen im Halbdunkel der Intensivstation, mit dem Rücken zur Tür und dem Gesicht zum Kinderbett, jede in ihrem Zimmer, abgeschnitten von Handyempfang und dem Rest der Welt. Müde, abgestumpft, den Blick auf der zuckenden Kurve des Monitors, als könnte man dort ablesen, was kommt. Als mein Mann vom Büro ins Krankenhaus kommt, trifft er nicht seine Ehefrau an, sondern eine Fremde in blauer Schwesternkleidung, die routiniert ihre Tochter festhält, als eine Ärztin mit der Nadel am Kopf Blut abnimmt. »Schwester Sandra«, sagt Harry und grinst mich an. Nachts auf der Elterntoilette beim Blick in den Spiegel finde ich das nicht mehr schmeichelhaft. Bin das noch ich? Nicht nur die Pflegeuniform ist zu groß, auch die Rolle passt mir nicht. Am nächsten Tag nehme ich das Angebot meines Mannes an, eine Schicht zu übernehmen, und setze mich in die Sonne. Ab sofort lasse ich andere assistieren. Ich wollte nie Krankenschwester werden, und Krankenschwestern hat meine Tochter sowieso genug, aber sie hat nur eine Mutter.

»Ein bisschen blind« – so treffend wie Bens Freundin Victoria hat es keiner formuliert. Lotta kann hell und dunkel unterscheiden, auf Schwarz-Weiß und Glitzerndes reagiert sie besser als auf Pastelliges, Verschwommenes. Ihre Sehnerven haben gelitten, »schwer sehbehindert« heißt irgendwann die Diagnose. Besser kann es immer noch werden, gut wird es nie. Wie ist das, nie das Lachen des großen Bruders zu sehen – oder die Wasserpistole, mit der er einen nass spritzt? Ich verbiete das, und doch ist es gut, dass da einer ist, der Lotta nicht in Watte packt und auch uns nicht schont. Für vieles andere ist Lotta die ultimative Entschuldigung: Man hat es ja schon so schwer. Hinter einem behinderten Kind kann man sich prima verstecken vor langweiligen Spielgruppen oder unangenehmen Pflichten. Aber nicht vor einem Dreijährigen. Ben hindert mich am Grübeln und zeigt mir, dass es im Grunde egal ist, ob Lotta nun behindert ist oder nicht. In seinem Alltag zählt nur, ob sie mit ins Planschbecken kommt.

Mein Schwiegervater, 80 Jahre, vernarrt in seine zwei späten Enkel, schaltet das Licht an.

»Da lacht sie ja, schau mal, wie sie lacht!«

»Ja, das nimmt sie wahr. Das findet sie lustig, weil Ben daraus ein Spiel gemacht hat.«

Er schaltet das Licht wieder aus.

»Da lacht sie wieder! Ja, das machst du toll!«

Schaltet es wieder an.

»Schau mal, mein Liebchen, Licht!«

Schaltet es wieder aus.

Großvater und Enkeltochter lachen.

Schaltet es wieder an.

»Was für schöne Grübchen du hast!«

An, aus, an, aus, an, aus.

Von der Sehfrühförderstelle kommt eine Sonderpädagogin, Martina Schmidt, rauchige Stimme, herzliches Lachen. Sie schleppt auf dem Fahrrad Körbe voller Förderspielzeug an, gemeinsam sitzen wir im dunklen Schlafzimmer und richten die Taschenlampe auf Rasseln, die wir mit Glitzerpapier beklebt haben. Lottas rudernde rechte Hand landet darauf. Ein winziger Fortschritt, auf den wir später mit Kaffee anstoßen.

Unsere Rettung heißt Jodi, so hat Ben unsere Kinderfrau getauft. 63 Jahre alt, schmal wie eine Zwölfjährige und fast ebenso dynamisch. Die Verantwortung für Lotta können wir nicht abgeben, aber wir können eine Auszeit nehmen, und sei es für zwei Stunden. Dank Jodi geht kein Teil der Familie in Sorgen unter. Ich habe »Mama-Sohn-Zeiten« mit Ben, nur wir zwei und das Klettergerüst, ich nehme den ersten Auftrag für einen Artikel an, jeden Freitagabend gehen mein Mann und ich aus, »romantisch eine Cola trinken«, wie wir unserem Sohn erklären.

Viele Ehen zerbrechen an Sorgenkindern wie Lotta, dessen sind wir uns bewusst. Ein Graben tut sich auf, zwischen mir bei den Ärzten und meinem Mann im Büro. Jeden Abend versuchen wir, ihn zu überbrücken. Schon seit Bens Geburt gibt es diesen Graben, doch mit Lotta wird er zu groß, um einfach darüberzuspringen. Harry bleibt einen Monat zu Hause, um den Alltag mit Lotta zu erleben. Gemeinsam müssen wir Entscheidungen treffen, die an Leben oder Tod rühren. Gehen wir das Risiko einer weiteren OP ein? Gehen wir das Risiko ein, nicht zu operieren? In beiden Fällen droht schlimmstenfalls der Tod, extrem unwahrscheinlich, aber dennoch. Über die Anschaffung unseres Sofas haben wir länger diskutiert. In diesen Extremsituationen bilden wir sofort eine Front, wir sind das Team Lotta. Nicht auszudenken, wenn einer sagen würde: »Warum nicht ins Pflegeheim?«, oder: »Du wolltest ja unbedingt ein zweites Kind.«

Beim Kindergeburtstag. Die Großen stürmen das Kinderzimmer, die Mütter trinken Kaffee, ein Baby im blauen Strampler macht die ersten Krabbelversuche. Ich starre hin, Ben auch. Er greift nach Lotta.

»Das soll Lotti auch machen. Komm, mach!«

»Das kann sie nicht.«

»Warum nicht?«

»Wegen der Ader im Kopf, weißt du noch? Weil der Kopf den Beinen und Armen nicht sagen kann, was sie machen sollen.«

»Warum?«

»Weil der Kopf den Beinen...«

»Nein, warum hat Lotti die Ader?«

Vergleichen ist hart. Lottas Tempo ist nur normal für uns, wenn wir nicht sehen, wie schnell sich andere Kinder entwickeln. Ich rufe eine Freundin an, die ich mit ihren zwei Jungs zum Spielen eingeladen habe, der große so alt wie Ben, der kleine etwas jünger als Lotta. »Es tut mir leid, ich schaffe das noch nicht. Ich kann so Kleine im Moment schwer ertragen.« Sie sagt, sie verstehe.

Je mehr Zeit vergeht, ohne dass Lotta robbt oder auch nur den Kopf sicher hält, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie alles aufholt, was ihr fehlt. Es gibt keinen Moment der Verkündung, keinen Arzt, der sich hinstellt und sagt: »Ihr Kind ist behindert.« Irgendwann hören wir von den Ärzten seltener das Wort »Entwicklungsverzögerung«. Irgendwann füllen wir den Antrag auf einen Behindertenausweis aus.

Zu Lottas erstem Geburtstag wollen wir nach New York. Mein Mann muss beruflich dorthin, das ist die Stadt, in der wir uns kennengelernt haben vor sieben Jahren, unsere Stadt. Wir zögern. Rufen alle Ärzte an, bitten um ihren Segen. Axel Feldkamp sagt: »Ein Kind wie Lotta braucht Alltag und nicht New York, um sich zu entwickeln.« Wir machen es für uns, sagen wir, wir müssen auch an uns denken. Während des Starts beobachte ich Lotta, Professor Brassel hat gesagt, der steigende Druck könne ihr nicht schaden. Wenn aber doch etwas platzt in ihrem kleinen Kopf? Nach der Landung am Flughafen Newark schwebe ich zehn Zentimeter über dem Boden. Lotta reißt ihre riesigen Augen angesichts der blinkenden Weihnachtsdekoration noch weiter auf als sonst, bestaunt die glitzernden Tannenbäume, entdeckt Schokomuffins als ihr Leibgericht. Ben möchte ab jetzt immer nach New York fahren. Gebeugt über Lottas Geburtstagsmuffin mit der brennenden Kerze, singen wir: »If you can make it there, you can make it anywhere...«

Der Reha-Buggy ist dann, wieder zu Hause, unser Coming-out, im buchstäblichen Sinne. Er hat einen Design-Preis gewonnen, ist blau und grau, mein Mann sagt, er sieht aus wie ein normaler Kinderwagen. Ich sehe die Bänder, um die Füße zu fixieren, die Gurte und Schrauben und ziehe Lotta ihre schönste Jacke an, die pinkfarbene, dazu die passende Mütze. Ich setze meine Tochter in den Wagen, zum ersten Mal muss sie nicht liegen, wenn wir rausgehen. Lotta lässt den Kopf zur Seite fallen und sieht eindeutig nicht normal entwickelt aus. Sie lächelt, und ich finde sie schön. Ben schiebt. »Los geht die wilde Fahrt!« Ich hebe den Kopf und laufe mit meinen beiden Kindern stolz zur Eisdiele.

An der roten Ampel lacht eine Frau den singenden Ben an, schaut in Lottas Wagen, schaut weg. Vor dem Kindergarten sagt eine Mutter beim Anblick des Buggys zögernd: »Der sieht ... speziell aus.« Eine Freundin erzählt, dass eine andere sie angesprochen hat: »Ich habe gesehen, dass der Kopf gestützt wird, aber fragen wollte ich nicht...« Über verpatzte künstliche Befruchtungen wird freier geredet als über Behinderungen. »Darf ich behindert sagen?«, fragt mich eine Freundin. »Das klingt so abwertend.« In den Broschüren des Gesundheitsamts ist Lotta ein Kind »mit erhöhtem Förderbedarf«. Was soll das sein? Auf der Website eines Kinderladens gibt es neben der Kategorie »Baby« und »Spielzeug« den Punkt »Besondere Kinder«. Ist Ben nicht besonders? Im Englischen sind geistig Behinderte »mentally challenged«, geistig herausgefordert. Sind wir so verklemmt, dass wir die Tatsachen verdrehen?

Ich rufe im Schwimmbad an:

»Ich wollte mich nach dem therapeutischen Schwimmen erkundigen.«

»Haben wir nicht.«

»Auf Ihrer Website steht, dass es für Kinder mit Beeinträchtigungen integrative Kurse gibt...«

»Ach, Sie meinen die Behinderten?«

Seitdem sage ich behindert.

Im Bäckerei-Café. Ben will Kakao, Lotta kriegt ein Weckchen. Die Bedienung:

»Die Kleine schaut ja komisch. Hat die was?«

»Die hat eine Sehbehinderung.«

»Aber wussten Sie das nicht vorher?«

»Vor der Geburt, meinen Sie?«

»Ja. Aber der große Bruder ist ganz normal, oder? Dann konnten Sie ja nichts dafür.«

Dann konnten Sie ja nichts dafür – über allem schwebt die Schuldfrage, auch wenn nur wenige sie so gedankenlos aussprechen. Ein behindertes Kind ist in der öffentlichen Wahrnehmung kein Schicksal mehr, das man hinnehmen muss, und das macht es mir schwer, mit dieser Frage endgültig abzuschließen. Musste man sich früher verteidigen, wenn man abgetrieben hatte, fühle ich mich jetzt genötigt, zu erklären, warum ich es nicht getan habe. Im Fernsehen schaue ich mir die Bundestagsdebatte über die Präimplantationsdiagnostik (PID) an. Als eine SPD-Politikerin sagt, sie wolle nicht, dass »Eltern sich für ein Kind mit Behinderung rechtfertigen müssen«, schnaube ich. Als ob es nicht jetzt schon so weit wäre. Bin ich deshalb gegen die PID? Ich weiß es nicht. Sollte nicht jeder selbst entscheiden, ob er das Risiko eines behinderten oder kranken Kindes eingehen will? Und doch fürchte ich, dass sich irgendwann keiner mehr findet, der den Mut dazu hat. Wie und wann das Kind kommen soll, optimieren wir jetzt schon: der richtige Zeitpunkt für ein Kind, der richtige Vater, ein kuscheliges Nest. Alles muss perfekt sein – und das Kind dann auch. Je weniger Kinder wir kriegen, desto besser müssen sie werden, die Ansprüche steigen, während die Geburtenrate sinkt.

Meine Nachbarin Anemone sieht Lotta zum ersten Mal im Reha-Buggy und sagt: »Ist die Kleine hübsch!« Andrea sagt: »Wir sind für euch da, in guten wie in schlechten Zeiten.« Gabi: »Wenn du mal reden musst, wir sind da.« Unser Freundeskreis sortiert sich neu. Wer uns nicht guttut, ist raus, andere rücken näher ran und erzählen mir vom Schlaganfall der Mutter oder vom Besuch im Pflegeheim des Vaters. Es ist, als wären wir einem geheimen Klub beigetreten: Wer schon einen Schicksalsschlag erlebt hat, der ist dabei. Eine Freundin mit Brustkrebs sagt: »Mir glaubt ja sonst keiner, dass es mir gut geht.« Nur wer einmal unten war, weiß, dass man auch da lachen kann, sogar lauter und fröhlicher. In all dem Dreck finden wir Gold: wundervolle Unterstützung durch meine Mutter, meinen Schwiegervater, Angehörige, Freunde, Nachbarn und zwischen Harry und mir wortloses Verstehen, Zusammenhalten. Die oberflächlichen Freundschaften sind schnell erkaltet, wir vermissen sie nicht.

Wir bilden eine Wagenburg. Der Druck von außen hat auch sein Gutes – er presst unsere kleine Gemeinschaft eng zusammen.

Was willst du denn, fragt mich ein Freund. Starren ist schlecht, wegschauen auch – wie sollen wir denn reagieren? Schreib doch mal eine Gebrauchsanweisung. Also gut: Wer alle kleinen Kinder anlacht, sollte auch mit meiner Tochter flirten. Wer sich nicht für Babys interessiert, sollte auch ein behindertes nicht anstarren. In einem Wort: Natürlichkeit. Die ist unmöglich, wenn man jede Geste reflektiert. Wer so eine Gebrauchsanweisung nötig hat, bei dem wird sie nicht funktionieren. Der muss versuchen, Behinderte so gut kennenzulernen, dass sie nichts Besonderes mehr sind. Und bis dahin: Schauen Sie nicht auf den Rollstuhl, sondern in die Augen, und reden Sie über das Wetter. Wenn mir danach ist, diskutiere ich gerne über Abtreibung, PID und die Grenzen der modernen Medizin – aber nicht beim Bäcker. Wenn ich einkaufen gehe, möchte ich keine permanente Volksabstimmung darüber, ob meine Tochter nun leben darf oder nicht.

Ich suche mir sorgfältig aus, mit wem ich darüber rede, wie es ist, wenn der Arzt sagt: »Das Kind kann 80 werden, aber dass es selbstbestimmt leben wird, kann ich Ihnen nicht versprechen.« Theoretisch könnte jederzeit eine von Lottas ausgeleierten Kopfadern platzen, ein minimales Risiko, aber ein Risiko. Was soll ich meinem Kind wünschen? Ein langes Leben in Abhängigkeit oder einen schnellen Tod? Es gibt Tage, da muss ich darüber nachdenken. Die Antwort sehe ich in dem schokoverschmierten Grinsen meiner Tochter. In der Zeitung lese ich von einer belgischen Studie über sogenannte Locked-in-Patienten, Menschen, die so vollständig gelähmt sind, dass sie nur noch per Wimpernschlag mit ihrer Umwelt kommunizieren können, etwa als Folge eines Schlaganfalls. Dann doch lieber tot, oder? 72 Prozent der befragten Patienten sehen das nicht so, sie bezeichnen sich selbst als glücklich. 72 Prozent – diese Zahl gibt mir sehr viel Kraft. Wer gesund ist, hat keine Ahnung, wie es ist, behindert oder auf andere angewiesen zu sein. Ich habe kein Recht, meiner Tochter einen schnellen Tod zu wünschen.

Lotta will stehen, drückt die Beine durch und macht sich kerzengerade. Die Unterarme muss sie dafür abstützen, sie steht an einem Hocker wie andere an der Bar. Sie steht und steht und lacht. Wenn man ihr einen Ball vor die Füße legt, denkt sie lange nach, winkelt ihr Bein an und kickt mit einer plötzlichen Bewegung den Ball weg. Fußball wird unser Lieblingsspiel, im Sportgeschäft suche ich ein Trikot in Größe 86 für Lotta. Jetzt kann ich mir vorstellen, wie das aussieht, wenn sie geht. Gestützt auf ein Gehwägelchen, mit Trippelschritten, aber auf den eigenen Füßen unterwegs. Ob sie das schaffen wird, hängt stark davon ob, wie sehr wir sie fördern. Ben hätte das Laufen auch ohne mich gelernt, Lotta wird das nicht schaffen. Das Gefühl, so sehr gebraucht zu werden, kann auch glücklich machen, das weiß ich heute. »Das musst du in deiner Situation auch so sehen, oder? Sonst könntest du dich ja gleich erschießen«, sagt mir ein Freund. Das stimmt in gewisser Weise, es ist harte Arbeit, langes Hoffen, ein täglicher Kampf gegen das Aufgebenwollen. Und doch: Wenn Lotta ihre rechte Hand gezielt bewegt, um nach meiner zu greifen, ist meine Euphorie zu groß, um sie in Worte zu fassen. Die Fortschritte mögen winzig sein, die Freude ist riesig. Nicht zu wissen, ob und wann der nächste Schritt nach vorne kommt, ist hart. Aber Lotta hat mir gezeigt, dass lachen zu können wichtiger ist, als stabil zu stehen. Dass der beste Sportkurs für Ben oder die effektivste Therapie für Lotta nicht so bedeutsam ist wie eine schöne Kindheit.

Bald kommt ein Bluttest auf den Markt, der in der zehnten Schwangerschaftswoche das Downsyndrom nachweisen kann. Als wir im neunten Monat Lottas Diagnose hörten, war sie für uns schon ein ganzer Mensch. Doch in der zehnten Woche? Da war Lotta noch eine namenlose Kaulquappe auf einem Ultraschallbild. Wenn damals ein Arzt gesagt hätte: »Ihr Kind wird schwer behindert sein« – hätten wir den Mut gehabt? Ich hoffe es, aber ich glaube es nicht. Lotta hätte es wahrscheinlich nie gegeben. Wir hätten wie viele gehandelt, aus Angst vor dem Unbekannten. Allein von den Downsyndrom-Verdachtsfällen werden schätzungsweise 90 Prozent abgetrieben. Auch wir hätten wohl gedacht: Das ist kein Leben. Wir hätten uns harte Zeiten erspart – und ein großes Glück verpasst. Lotta gehört heute dazu wie die Luft zum Atmen, genau wie Ben. Eine Welt ohne sie? Ein furchtbarer Gedanke.

Werden einige Behinderungen verschwinden, wie der Humangenetiker Wolfram Henn von der Universität Saarland voraussagt, »per Abtreibung«? Ich bin kein Abtreibungsgegner geworden und hasse es doch, wenn Menschen glauben, dass eine Behinderung etwas ist, das sich verhindern lässt. Eine Illusion ist das nicht nur, weil sich nicht alle Defekte vorab testen lassen und weil immer Kinder vor Autos laufen oder von Bäumen fallen werden. Der medizinische Fortschritt, der uns Gendefekte immer früher erkennen lässt, sorgt aber gleichzeitig auch dafür, dass Neugeborene, die früher geringe Überlebenschancen hatten, heute nicht mehr sterben müssen.

Was macht ein Leben lebenswert: laufen oder lesen können? Wer wird gerettet, wer abgetrieben? Und wer will das entscheiden?

Am Strand in Domburg. Ben lässt einen Drachen steigen. Lotta ist fast zwei und kann immer noch nichts mit einer Schaufel anfangen. Ein paar Meter weiter eine andere Familie, das Mädchen baut eine Sandburg. Die Mutter schaut rüber, ich sehe die Frage in ihren Augen. Ja, Lotta gefällt es am Meer, auch wenn sie nicht buddeln kann. Um Glück zu empfinden, muss man nicht laufen können, um zu lieben, nicht sehen können. So selbstverständlich das klingt, ich musste es erst lernen. Wenn Ben Fahrrad fahren lernt, ist es ein Wunder, das wir beklatschen, bei Lotta ist es ein Weltwunder, wenn sie ihre Knie knickt. Es sind andere erste Male, doch sie machen mich nicht weniger stolz.

»Du bist entspannter geworden«, sagt eine Freundin. Ich habe keine Kraft mehr für falsche Kompromisse, ich bin ehrlicher geworden, mit mir selbst und anderen. Harry und ich hätten vielleicht auch ohne Lotta gemerkt, dass das geölte und mittlerweile gefleckte Küchenparkett nicht wichtig ist. Vielleicht hätten wir uns aber auch in einem Kleinkrieg zermürbt. Wir müssen immer noch aufpassen, dass der Graben zwischen uns nicht zu groß wird, achten weiter darauf, dass Ben nicht zu kurz kommt. Ein Balanceakt. Doch Ben wird von Lotta wohl mehr darüber lernen, was im Leben zählt, als von uns.

Ich wünsche mir einen Monat ohne Krankenhausbesuche und dass Lotta irgendwann keine Windeln mehr braucht. Doch ich kann wieder mit gesunden Kindern spielen, die so alt sind wie Lotta, ohne traurig zu werden. Ich möchte nicht mehr tauschen. Wir wissen immer noch nicht, wohin uns Lotta tragen wird. Wir haben ein anderes Vena-Galeni-Kind kennengelernt, Lukas. Als er zwei Jahre alt war, hatten die Ärzte ihn schon abgeschrieben, heute geht er auf eine Regelschule und spielt Fagotthorn. Diese Ungewissheit müssen wir aushalten.

Die Liste dessen, was Lotta nicht kann, ist lang, doch die Liste dessen, was sie kann, ist länger. Sie kann ihren Papa mit ihrem Grübchenlächeln so um den Finger wickeln, dass er sagt: »Ach, dann lass sie bei uns schlafen.« Sie kann im Kinderwagen so lange brüllen, bis ich sie auf dem Arm spazieren trage. Lotta liebt Musik, ihren Schnuller, rutschen, schaukeln, hoppe, hoppe, Reiter, wenn er fällt, dann schreit er.

Sie wird bald noch einmal operiert werden, vielleicht zum letzten Mal. Gerade heute hat sie sich zum ersten Mal einen Löffel in den Mund geschoben. Sie kann prima zuhören, sagt Ben und gibt Lotta einen Kuss. Sie strahlt ihn an, er sagt zu ihr: »Und lieb haben, das kannst du sehr, sehr gut.«





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