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Veroffentlicht am: 2007-03-17 06-10-00 Counter: 10681 Kommentar hinterlassen Im Jahr 1997 wurde mein Leben in „davor" und „danach" geteilt. Von außen gesehen, ist wahrscheinlich nichts Besonderes passiert – ich lag drei Wochen lang in der Gebietsabteilung der Kinderhämatologie. Was konnten diese drei Wochen im Leben des dreizehnjährigen Kindes ändern? Aber diese drei Wochen, diese endlosen 21 Tage haben mein ganzes Leben umgedreht, und es ist nie mehr so geworden, wie es davor war.
Das war ein grausamer Unterricht des Lebens… Ich weiß nicht, warum Gott sich entschieden hat, mir, einem dreizehnjährigen Mädchen diesen ganzen Horror zu erleben. Vielleicht dafür, dass ich nach vielen Jahren gesunden Menschen erzählen kann, dass die Hölle existiert. Sie ist da, auf der Erde, in einem ganz gewöhnlichen Krankenhaus, in der Abteilung Kinderhämatologie. Wahrscheinlich ging ich genau dafür durch diese Hölle, damit Andere erfahren, was hinter der trockenen Statistik von Krebserkrankungen bei Kindern steht.
In diesen Erzählungen versuchte ich, die denkwürdigsten Momente zu beschreiben. Das, was in die Seele fiel und manchmal schockierte. Momente, über die ich bis jetzt schwieg, da ich keine Kraft finden konnte, das alles wieder, sogar geistig zu durchleben. Ich hoffe, die Leserinnen und Leser bekommen aus diesen einzelnen Erzählungen eine klare Vorstellung von der Welt, in der Hunderte Kinder in der Ukraine leben. Von der Welt, voller Angst, Trauer, aber auch mit Hoffnungen und Glauben.
FLUCHT VOM TOD
Als ich zum ersten Mal die Abteilung für Kinder-Hämatologie betrat, hatte ich gar keine Vorstellung, was das ist. Solche Begriffe wie „Kinder" und „Krebs" waren in meinem Gehirn schwer zu vereinigen. Es sah so aus, als ob sich jemand geirrt hatte, als man mir erklärte, dass es hier Kinder mit Leukämie gäbe. Denn so etwas konnte nicht sein.
Zuerst dachte ich, diese Abteilung sei ganz gewöhnlich und die Kinder seien so wie überall. Nach zwei Tagen habe ich aber angefangen, den Unterschied zu empfinden. Die haarlosen Kinder haben das Wort „Tod" genauso gewöhnlich ausgesprochen, wie das Wort „Frühstück". Es schien so, dass der Tod selbst irgendwo da in der Luft hängt. Er war mit der Haut zu spüren. Außerdem haben da unglaublicherweise Verzweiflung und der grenzlose Optimismus koexistiert. Ich hörte manche Kinder sagen: „Ich würde lieber sterben als noch eine Chemie-Therapie machen zu lassen" und sah die anderen ihre infolge der Chemie-Therapie haarlosen Köpfe streicheln mit Scherzen: „Jetzt kann ich Shampoo sparen"… Und nicht nur unterschiedliche Kinder; jedes Kind hatte im Alltag mal Verzweiflung und volle Apathie, mal Glauben und Hoffnung auf Besseres erlebt.
Und auch verschiedene Augen… Augen dieser Kinder haben mich am stärksten beeindruckt. Sie waren so… es ist schwer zu beschreiben… sie haben ganz erwachsene Emotionen reflektiert. Wenn jemand von den Neuen sagte: „ich gehe bald nach Hause", warfen sie auf ihn ironische und nachsichtige Blicke, in denen man lesen konnte: „Wie wenig verstehst du erst von diesem Leben!" Manchmal erschien in diesen Augen unglaublicher Schmerz… Es war plötzlich, wie eine Wolke, als ob Augen für wenige Sekunden mit einem Schleier bedeckt waren. Und dann wurde in den Augen wieder ein Lebenslicht entzündet. Das sind keine physischen Schmerzen, die für die meisten Patienten dort ein Teil des Alltages geworden sind. Das sind in erster Linie emotionelle Schmerzen, die vom Gedächtnis aus einen Schreck hervorrufen, der ab und zu kommt und daran erinnert, dass alle sterblich sind, sogar Kinder…
Ich weiß nicht warum, aber nach einer Woche habe ich die ganze Atmosphäre dieser Abteilung so scharf gefühlt, dass ich eine Sache verstand, die allen ständigen „Bewohnern" der Abteilung absolut klar war und für Kinder mit Anämie gar nichts bedeutete. Ich verstand wenig mit dem Kopf, mein Herz „wusste" aber, dass diese Stelle furchtbar ist, dass ich von hier fliehen muss… Meine Seele forderte von mir, dass ich in die normale Welt zurückkehre, wo alles so leicht und klar war, wo es diese drückende, üble Vorahnung nicht gab.
Es war der 21. Tag meines Aufenthalts in der Abteilung für Hämatologie. Durch die Glastür meines Zimmers sah ich Ärzte ins Zimmer nach drüben laufen. Genauer gesagt rennen, was in der Abteilung unüblich war. Dann sah ich, wie man dorthin einen Tropf trägt. Eine Krankrenschwester schrie etwas ins Telefon. Aus dem Zimmer kam ein junges Mädchen heraus. Das war die Schwester eines neuen Jungen, sie blieb bei ihrem Bruder, solange ihre Mutter die Analysen-Ergebnisse nach Kiew zur Diagnose-Bestätigung brachte. Sie weinte… Nicht in der Weise, wie Menschen gewöhnlich wegen Beleidigung oder Kummer weinen. Sie schluchzte nur, und Tränen flossen auf ihren Wangen. Sie bemerkte das aber nicht und ging ziellos umher. Jemand von den Müttern nahm sie an die Schulter und brachte behutsam zum Stuhl neben der Schwestern-Zentrale, eine andere Mutter brachte ein Glas Wasser. Das Mädchen reagierte teilnahmslos, wahrscheinlich bemerkte sie das auch nicht.
An die Tür drüben hatte man ein weißes Betttuch gehängt. Ich kannte diese Abteilung schon gut genug , um dieses Zeichen zu verstehen: Hinter der Tür geht es jemandem sehr schlecht, hängt deswegen das Betttuch vor das Glas, damit andere Kinder das nicht sehen können. Ärzte liefen rein und raus, an ihren Händen bemerkte ich Blut… viel Blut. Dann brachte man einen Rollstuhl ins Zimmer . Das Betttuch an der Tür wurde geöffnet und man schob einen Jungen. Ein blasser blonder 14-jähriger Junge hatte „a.L." (akute Leukämie) in der Zeile „Diagnose". Alle Kinder in der Abteilung wussten, was diese Abkürzung bedeutet, nur Ärzte und Eltern geben hartnäckig vor, dass Kinder ihre eigenen Diagnosen und die von Nachbarn nicht kennen würden. Der Junge saß im Rollstuhl mit seinen Beinen zum Bauch hebend, weil der Rollstuhl kein Trittbrett hatte (mit einem Trittbrett passte er nicht in den Aufzug). Er war mit einem T-Shirt und einer kurzen Hose bekleidet. Das T-Shirt war irgendwann vorher weiß… Jetzt war es ganz rot, nur wenige kleine Stellen auf den Ärmeln blieben weiß. Neben dem Gesicht hielt der Junge ein gefaltetes Tuch. Es war auch rot und ganz nass. Auf seinem Gesicht, Armen, Beinen… überall war Blut. Es schlug wie eine Fontäne aus der Nase, als er für eine Sekunde das Tuch vom Gesicht nahm. Als man ihn an meiner Tür vorbeischob, sah ich ihn ein Tuch etwas stärker ans Gesicht pressen, wobei Blutströme zwischen seinen Fingern rannen. Das Tuch war voller Blut… Der Junge wurde zur Reanimation gebracht. Ich hörte jemanden von den Kindern sagen: „Das ist das Ende". Später erfuhr ich, dass Kinder aus unserer Abteilung in Ausnahmenfällen zur Reanimation verlegt werden und meistens von dort nicht wieder zurückkehren…
Nach einer halben Stunde hörte ich, wie ein Rollstuhl im Flur geschoben wird. Sofort erkannte ich, dass man den Jungen zurückschiebt. Er weinte nicht… In seinen Augen fehlte sogar die Angst, nur das volle Unverständnis für das was geschieht, war zu sehen. Es geschah nämlich Folgendes: In der Reanimation lehnte man einfach ab, ihn anzunehmen, weil man ihm seinen schlechten Zustand ansah. Denn für jeden Tod muss die Abteilung einen Bericht anfertigen… Für die Reanimation war dieser an Verblutung sterbende Junge nur eine statistische Einheit. Eine sehr unerwünschte Einheit. Er wurde einfach nicht genommen, und es wurde gesagt, es sei besser, wenn er in der Abteilung stürbe. Nur unser medizinisches System konnte solche Traditionen schaffen… Der qualvolle Tod des Verblutens in einer normalen Abteilung, wo man keine Trennung des sterbenden Kindes von anderen herstellen konnte, wurde mehr Wert beigemessen als der Verschlechterung statistischer Zahlen.
Als man den Jungen ins Zimmer brachte, berührte er das Betttuch mit einer Hand. Auf dem weißen Betttuch blieb ein Blut-Abdruck von der Kinderhand zurück… Ärzte liefen wieder rein… Ich sah die Krankenschwestern alle 10-15 Minuten neue Flaschen Lösungen für den Tropf bringen. Der Junge verlor große Mengen Blut, es musste irgendwie ersetzt werden. Es gab aber nicht so viel Blut in der Transfusionsstation. Außerdem, wenn man das ganze Blut diesem Kind injizieren würde, wären die Leben anderer 10 Kinder in Gefahr, die auch jederzeit das Blut brauchen könnten. Deshalb wurde dem Kind die einfache Salzlösung gegeben …
Die Stimme des Jungen hörte ich nicht, nur die kurzen Befehle der Ärzte, dies und jenes zu bringen. Die Schwester des Jungen saß immer noch neben der Schwesternzentrale. Ihr Gesicht war wie aus Stein, Tränen flossen unaufhörlich. Sie richtete den Blick auf einen Punkt an der Wand vor sich, ohne die vorbeigehenden Leute zu bemerken. Sie antwortete nicht, als man ihr ein Glas Wasser oder Beruhigungsmittel anbot. Sie saß einfach durch die Wände schauend da. Manchmal bewegten sich ihre Lippen, es war aber nicht zu hören, was sie sagte. Vielleicht flüsterte sie ein Gebet oder stellte sich flüsternd eine Frage, die sie später laut schrie: "Warum ausgerechnet er?!"
Die ganze Abteilung stand still. Pflegerinnen wischten die Blutstreifen ab, die der mit dem Blut bespritzte Rollstuhl hinterließ. Sie versuchten, das möglichst schnell zu machen, sodass die Kinder nichts davon bemerken, aber es war bereits zu spät dafür, alle verstanden das Ganze. Die Kinder versammelten sich im Esszimmer, in ihren Augen war die panische Angst. Jeder Todesfall in dieser Abteilung bedeutet eine Zerstörung der Hoffnung aller Anderen, von hier lebendig herauszukommen. Es hängte eine gespannte Stille im Raum, alle warteten auf das Finale. Nur wenige Kinder mit Anämie diskutierten über irgendetwas weiter. Sie verstanden nicht, was passiert… Wahrscheinlich lag darin ihr Glück…
Der Junge wurde noch einige Male vor meiner Tür zur Reanimation gebracht, beide Male aber nicht angenommen. Als er zum zweiten Mal zurückgebracht wurde, sah ich sein Gesicht und verstand, was das Wort „totenbleich" bedeutet. Sein ganzes Gesicht war mit Blut verschmiert, es war aber auch seine völlig weiße Haut erkennbar, ohne die geringste Rosafärbung. Seine Augen waren halbgeschlossen. Die Beine rutschten immer wieder aus dem Rollstuhl, der Kopf hing kraftlos zu einer Seite. Ärzte tasteten ihn, er machte Augen auf, warf einen trüben Blick auf sie, blickte verwirrt umher und machte Augen wieder zu. Und stirbt… er stirbt vor den Augen aller Kinder…
Ich vergesse nie, wie alle Ärzte und Krankenschwestern das Betttuch etwas beiseiteschoben und das Zimmer verließen. Alle gleichzeitig… Eine Krankenschwester trug den Tropf, in dem die Hälfte der Lösung blieb. Ich sah das und alles brach in mir zusammen… Ich wusste, dass der Junge gestorben ist. Ich wusste es einfach… Ich sah wie verhext das weiße Betttuch mit dem Blut-Abdruck von der Hand des Jungen an… Es war furchtbar für mich, weil dieser Abdruck noch nicht trocken war, das Kind gab es aber nicht mehr… Es gab ihn nicht und wird ihn nie wieder geben… Ich drehte mich zur Wand und weinte… weinte wegen des Jungen, den ich vor zwei Tagen zum ersten Mal sah, dessen Namen ich nicht kannte. Ich lag und schluchzte, plötzlich hörte ich aus dem Flur einen Schrei… anders kann man es nicht nennen. Die Schwester des Jungen schrie furchtbar, sehr furchtbar. Ich hörte, wie man sie flüsternd beruhigte, sie schrie aber weiter: „Warum???" So viel Schmerz, so viel Leid war in diesem Schrei.
Wirklich – warum? Warum passiert das alles? Diese Frage ließ mich auch nicht in Ruhe. Ich hörte, wie man das Mädchen aus der Abteilung brachte. Ich hörte es weiter schreien… Ich wollte auch schreien, konnte aber nicht… Ich weinte einfach…
Nach wenigen Minuten versammelte man alle Kinder im Flur und führte sie zum „Spazierengehen", um den Körper des Jungen ohne Zeugen herauszutragen. Man brachte uns aus dem Gebäude zu den Gartenhäusern. Wir wurden wie unter Bewachung geführt. Genauer gesagt, gingen wir wie unter Bewachung: schweigend, auf nichts achtend, die Augen gesenkt. Ich sah Tränen in den Augen vieler Kinder… sie schwiegen… schwiegen und weinten…
Manche Kinder, die in der Zeile „Diagnose" auch „a. L." hatten, setzten sich getrennt von anderen zusammen. Diese zehn Kinder unterschiedlichen Alters beugten sich zu einander, manche legten ihre Hände auf die Schulter der anderen dieser Gruppe. Sie teilten ihr Schicksal miteinander … sie versuchten, sich zu erholen, nachdem der Todessturm über ihnen hinwegfegt war… Heute hat er nicht sie mitgenommen, aber morgen? Früh morgens glaubten noch viele von denen im Gartenhaus sitzenden daran, dass sie wieder gesund würden und ein normales Leben hätten. Jetzt glaubte daran niemand… sogar der fünfjährige Ljoscha… auch er weinte. Vielleicht übernahm er die gemeinsame Stimmung, oder empfand, wie alle Anderen, dass der Tod seine Macht zeigte und die ganze Abteilung daran erinnerte, dass er da der Herr sei.
Ein Junge sprang plötzlich auf und schrie: „Na! Wer ist der Nächste? Ich?!" Alle zuckten von diesem Satz. Er sagte das laut, was jeder in diesem Moment dachte. Ein älteres Mädchen zischte auf den Panikmacher. Er setzte sich wieder und weinte völlig deprimiert. Aber seine Frage wiederholte sich immer wieder in meinem Kopf. Und irgendwie ist es unerträglich furchtbar geworden, dass ich die nächste sein könnte. Ja, ich! Die gesunde, mich gut fühlende… Die Angst wurde in der Seele immer stärker, es schien mir, dass der Tod mich auch nimmt, sobald ich wieder die Schwelle der Abteilung überschreite. Das war die panische Angst, von der alles in mir kalt wurde und das Blut aus dem Gesicht fließen ließ. Es schien mir, dass es besser wäre, hier und jetzt zu sterben, als dorthin, in diese Hölle zurückzukehren…
Als wir zurück in die Abteilung kamen, hing das weiße Betttuch mit dem Blut-Abdruck immer noch an der Tür… Dort, hinter der Tür, versuchten die Pflegerinnen, das Blut von den Wänden, vom Boden, vom Bett abzuwaschen. Das durften wir nicht sehen, wir sahen aber den Blut-Abdruck der Hand des Kindes, das es nicht mehr gab… Deswegen lief mir ein kalter Schauer unter die Haut… Aber nicht das war das Furchtbarste.
Das Schlimmste war, dass alle Erwachsenen in der Abteilung sich so benahmen, ob als nichts passiert wäre. So, als ob das ein normaler Tag wäre und der Junge immer noch hinter dem Betttuch liegen würde und alles mit ihm in Ordnung wäre… Dieses gemeinsame Vortäuschen machte die Atmosphäre unerträglich. Es schien so, dass nur Kinder den Jungen betrauern und allen Erwachsenen es völlig egal sei… Ärzte lächelten uns genauso falsch an, Eltern waren ebenso mit ihren Sachen beschäftigt. Es sah so aus, als wenn Erwachsene in der einen Realität leben und wir Kinder – in der ganz anderen. Und die zwei Realitäten träfen sich nicht… Und es war unglaublich furchtbar sich vorzustellen, dass es mich beispielsweise morgen nicht mehr gäbe und allen anderen außer zehn Kindern, das genauso egal sei.
Ich saß und schaute mir wie benommen das Betttuch mit dem Hand-Abdruck an, ohne den Blick für eine einzige Sekunde wegzunehmen. Auf meinen Wangen flossen Tränen… Alle sahen das, kein Erwachsener kam aber zu mir und fragte, was los sei… Nur ein siebenjähriger kahlköpfiger Junge kam zu mir, nahm mein Gesicht in die Hände und drehte es so, dass ich den Hand-Abdruck nicht mehr sehen konnte. Ich sah ihn an, er sagte leise zu mir: „Gewöhne dich daran", und ging weg. Damals empfand ich diese Wörter wie lästern, denn es war unmöglich, sich daran zu gewöhnen!!! Es war unmöglich, damit zu leben!!!
Mich ergriff ein einziger Wunsch: von diesem schrecklichen Ort wegzulaufen. Durch Gehölz und Busch zu laufen, möglichst weit weg! Ich konnte mich da nicht länger aufhalten, ich wurde langsam verrückt… Weg, weg, weg – das wiederholte sich immer wieder in meinem Kopf. Ich wusste schon, was zu tun war. Ich kam in mein Zimmer, nahm eine ins Buch gesteckte Hrivnja… Das musste reichen… Dann holte ich meine Sachen aus der Kommode, legte sie in eine Tüte, zog mich an und verließ leise und unbemerkt die Abteilung… Ich ging bei Regen, mit Hausschuhen und einer dünnen Sporthose bekleidet… Es regnete zwar so stark, aber die Kleidung wurde schnell nass. Ich ging zwei Straßenbahn-Stationen zu Fuß durch, denn in der Nähe vom Krankenhaus wollte ich nicht warten, dort konnte man mich finden. Deshalb trottete ich langsam die Straßenbahn-Linie entlang, immer weiter von der furchtbaren Abteilung weg… Ich musste 30 Minuten bei strömendem Regen auf eine Straßenbahn warten. Die Hausschuhe waren völlig durchnässt, ich fror… bereute aber keine Sekunde, dass ich fortging. Je weiter ich mich vom Krankenhaus entfernte, desto größere Ruhe machte sich in mir breit. Die Straßenbahn fuhr durch die abendliche Stadt… Niemand achtete darauf, dass ich nicht dem Wetter entsprechend angezogen war… Niemand achtete auf meine Tränen, die ab und zu auf den Wangen flossen… Es war allen egal, genauso wie dort, in der Hämathologie-Abteilung.
Zu Hause erklärte ich nichts meinen Eltern. Ich weinte und schwieg… Nein, ich sagte nur einen Satz: „Ich kehre nicht mehr zurück!!!" Nichts konnte meine Entscheidung ändern. Noch in der Nacht hörte mich meine Mutter schluchzen und setzte sich neben mich. Sie schwieg, ich wusste aber, dass sie eine Frage quälte, warum ich floh. Und zum ersten Mal nach vielen Stunden fand ich in mir Kräfte, ebendas auszusprechen: „Mama, dort stirbt man! Ich fürchte, dass ich auch dort sterbe!" Nein, es war zu furchtbar, das laut zu sagen. Dann schwieg ich wieder und weinte nur…
Am nächsten Tag brachten mich meine Eltern nicht in die Hämatologie-Abteilung zurück… Und noch viele Monate lang antwortete ich auf alle Fragen mit Tränen, schweigend… Trauer-Tränen für den Jungen, den ich nur zwei Tage sah, der aber mein Leben für immer veränderte. Er hieß Sascha… Das habe ich später erfahren…
Notizbuch
- Natascha, stirbt man da häufig?
Ich saß neben einem Mädchen, dass 6 Jahre gegen Limphagranulomatose kämpfte, in ihrem Zimmer der Hämatologie-Abteilung. Sie hatte den dritten Rückfall. Nur eine Knochenmark-Transplantation, die damals in der Ukraine noch nicht gemacht wurde, könnte das Mädchen retten.
- Schaue dir das mal an!
Natascha nahm ein dickes Notizbuch aus der Kommode. Es war schon ziemlich abgeschabt. – Ich habe alle meine Freunde darin eingetragen, die ich in Hämatologie-Abteilungen verschiedener Kliniken kennenlernte. Da sind alle Adressen seit dem ersten Tag meiner Krankheit drin.
Ich nahm das Notizbuch in die Hand. Es war zu zwei Drittel ausgefüllt. Da waren viele, sehr viele Adressen. Auf der ersten Seite waren aber die Adressen gekreuzt… Und auf der zweiten… Und auf der dritten…
- Das… - weiter konnte ich nicht sprechen.
- Ja, das sind jene, die nicht mehr leben.
Natascha nahm mir das Notizbuch aus der Hand und blätterte es schnell. Ich bemerkte, dass die meisten Notizen durchgekreuzt waren.
- Wie lebst du damit?
Es war mir unerträglich, so einen Beleg über Kindersterblichkeit an Krebskrankheiten zu sehen.
- Ich lebe dank diesem, - Natascha klopfte mit dem Finger auf einer Notiz. Das war eine einzige Adresse von sechs Seiten, die nicht durchgekreuzt war. – Dieser Junge hat zwei Rückfälle Leukämie überlebt, aber schon seit drei Jahren geht es ihm besser, er lernt und freut sich auf das Leben. Ich lebe dank dem Glauben, dass ich auch so ein Glück wie er und noch einige andere Kinder habe. – Sie hatte das Notizbuch schnell geblättert und mit dem Finger auf einige, noch nicht gekreuzte Adressen gestoßen.
- Das sind aber nur wenige, alle anderen sterben!!!
Bis zu diesem Gespräch, konnte ich mir das Ausmaß der Tragödie in keiner Weise vorstellen.
- Aber wenn es diese wenigen nicht geben würde, wäre es sinnlos, überhaupt zu kämpfen! Iryna, weißt du wie ich glauben will, dass ich zu denjenigen gehöre, die die Krankheit besiegen können? Weißt du, wie furchtbar es ist, sich sogar für eine Minute vorzustellen, dass dein Name in Zehnern solcher Notizbücher einmal gekreuzt wird…
Genau zwei Monate nach diesem Gespräch wurde Natascha’s Adresse in meinem Notizbuch gekreuzt…
Warum ich?
Es war spät nachts… Ich machte meine Augen auf… Meine Mama saß neben meinem Bett auf dem Stuhl, ohne den Blick von mir abzuwenden. Unter dem Bett stand eine Tischlampe und gab einen schwachen Schimmer. Dank ihr war es im Zimmer nicht ganz dunkel. Ein Lichtstreifen fiel auch in den Flur. Ich guckte auf den schwachen Schimmer auf dem Boden vom Flur und sah auch noch einen ähnlichen Lichtstreifen. Ich wusste, woher sie kommt: In einem anderen Zimmer sitzt genau so eine andere Mutter neben ihrem sterbenden Kind. Sie sitzt schon mehrere Nächte, genauso wie meine Mutter, sitzt nicht nur nachts, sondern auch tags, isst nicht, schläft nicht… sitzt nur, ohne die Augen von ihrem Sohn zu nehmen…
Es fiel mir schwer zu atmen… ich konnte mich nicht selbst im Bett drehen. Wegen des ständigen Liegens in einer Position, ist mein Körper taub geworden und ließ mich nicht schlafen. Und meine Mama war gerade eingeschlafen, auf dem Stuhl neben mir sitzend. Sie schläft schon mehrere Tage so bruchstückenhaft. Ich wollte sie nicht wecken, um mich zu wenden, deshalb lag ich ruhig…
Ich guckte auf die Lichtstreifen aus dem anderen Zimmer und versuchte nach Kräften, ein Bild aus dem Kopf zu verbannen, das ich seit einer Woche sah…
Mich trug man auf Armen in die Abteilung, unterwegs sah ich aber Tante Tanja. „Wowa lebt, er lebt! Hurra!" – ich wusste: Wenn die Mutter von meinem Freund Wowa da ist, ist er auch da, das heißt – er lebt noch. Trotz Allem… Zuerst bat ich Tante Tanja, Wowa zu sagen, dass ich da bin, damit er kommt und wir uns unterhalten. Sie senkte die Augen und sagte:
– Es ist ihm schlecht, er kann nicht kommen.
– Gut, dann komme ich zu ihm, darf ich? – Tante Tanja blickte kurz auf meine Mama, dann auf mich… In ihrem Blick gab’s etwas Erschreckendes…
– Ira, ich denke, das musst du nicht sehen. Du verstehst nicht, es geht ihm SEHR schlecht.
– Na, wenn ich ihn nicht stören darf, dann…
– Nein, es ist wahrscheinlich nicht mehr möglich, ihn zu stören… – Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Sie und meine Mama gingen zusammen aus dem Zimmer. Ich wusste, dass sie zu Wowa gingen, ich wollte auch mit. Aber ich konnte mich nicht einmal selbst hinsetzen… Als Mama zurückkam, sah ich, dass sie weint. „Es ist wirklich besser, dass du das nicht siehst!" – Das war das Einzige, was ich von ihr hörte, bevor sie anfing zu schluchzen. Aber ich war in meiner komisch anmutenden Kinder-Naivität immer noch davon überzeugt, dass mit Wowa nichts Furchtbares passieren könne, dass ich mit ihm sprechen könne… Ich habe Mama überredet, mich auf den Armen zu Wowa zu bringen…
Auf dem Bett lag der Körper meines Freundes. Der ausgemergelte Körper. Auf dem einen Auge war eine Binde geklebt, sie war groß, bluttriefend und ragte nach oben heraus. Ich wusste schon, dass es unter dieser Binde kein Auge mehr gibt, denn das hat man wegen Sarkome der Augenhöhle entfernt, mit der Hoffnung, wenigstens das Leben von Wowa zu retten. Das zweite Auge war auf und guckte in irgendeinen Punkt an der Decke. Ich wurde neben Wowa gesetzt, er wandte aber keinen Blick auf mich…
– Hallo, Wowa! Wie geht’s? – ich berührte seine Hand, er guckte aber immer noch zur Decke.
Ira, er saß vor zwei Wochen, sah mit allen Anderen fern, kam danach ins Zimmer, beklagte sich über Kopfschmerzen und legte sich hin. Ich ging, ihm Wasser zu bringen und eine Tablette zu geben. Als ich zurückkam, guckte er schon so durch mich und antwortete nicht mehr, – Tante Tanja wischte schnell ihre Tränen fort. – Wowa, guck mal! Ira ist zu dir gekommen! Dreh` dich doch mal zu ihr!
Wowa reagierte aber nicht. Ich guckte erschrocken auf ihn. Ist das alles, was von meinem Freund geblieben ist, der die ganze Abteilung mit seinen Witzen amüsierte? Zum Beispiel: Ich rief ihn, mit uns zu spielen, aber er musste die letzten 100 Gramm hassenswerter Chemie nachtropfen und sagte: „ Ich breche noch zu Ende und komme dann." Immer so fröhlich und lustig… Vier Jahre Kampf gegen Sarkome der Augenhöhle – erfolglos. Operation nach Operation, aber der Tumor wuchs immer weiter. Strahlungstherapie – er wuchs weiter. Chemie nach Chemie, und inzwischen – trotzdem Operationen, um wenigstens einen Teil des Tumors zu beseitigen, der das Gehirn erdrücken könnte. Die letzten zwei Jahre führte der Kampf nicht mehr zu einer Besserung, diese war unmöglich geworden. Die ganze Behandlung, alles Quälen waren nur dafür, dem Tod noch ein paar Monate abzugewinnen. Das erfuhr ich erst jetzt, vorher war ich sicher, dass Wowa nach der erfolgreichen Chemotherapie endlich für immer von hier geht, dass seine Haare nachwachsen, die es seit vier Jahren auf seinem Kopf nicht gab. Aber alles, davon ich träumte, war eine Utopie… Der Tumor ist ins Gehirn durchgewachsen, Wowa fiel ins Koma. Sein Tod ist nur eine Frage der Zeit. Es war mir unmöglich, das zu akzeptieren…
Tante Tanja ging aus dem Zimmer heraus, und ich zupfte Wowa’s Hand immer ausdauernder und bat ihn: „Wowa, guck mich mal bitte an! Bitte!" Plötzlich richtete er seinen Blick auf mich. Den ganz bewussten Blick!!! Ich drückte ihm die Hand: „Wowa, hallo!" Zur Antwort bog er leicht seine Finger im Versuch, meine Hand auch zu drücken. Er lächelte und bewegte ein paar Mal seine Lippen, ich hörte aber keine Wörter. „Wowa, alles ist gut! Siehst du, ich bin wieder da! Ich brachte Spiele mit, du sollst gesund werden und wir spielen zusammen…" Sein Lächeln ist noch breiter geworden und das gesunde Auge blinzelte mehrmals. Ich saß und erzählte ihm etwas, ohne meinen Blick von seinem Gesicht abzuwenden. Damals wollte ich stark glauben, dass sich alle irrten, dass sein Koma kurzfristig gewesen sei und jetzt alles besser werden würde. Plötzlich ging sein Blick krampfartig nach oben, das Augenlid ging zu und zitterte. Als das Auge wieder aufging, starrte es wieder durch die Decke. Ich neigte mich über ihm, zupfte seine Hand, rief ihn. Er hörte mich aber nicht mehr…
Seitdem ist eine Woche vergangen. In dieser Zeit ist Wowa nicht mehr zu Bewußtsein gekommen. Ich war die einzige, auf den er irgendwie reagierte. Er starb… ich starb auch. Ohne mich selbst setzen zu können, hörte ich tagelang gespannt hin, was dort, in seinem Zimmer passiert. Ich glaubte immer noch daran, dass er den Tod auch diesmal besiegt. Anders konnte es einfach nicht sein!
Es ist schon draußen grau geworden, als ich in einen schweren Schlaf versank. Ich träumte davon, dass ich durch ein Gebäude gehe, das wie eine Schule aussieht. Die Flure waren leer, in Klassen waren aber Kinder. Viele Kinder… Ich ging und wusste nicht, in welche Klasse ich sollte, und bemerkte plötzlich, dass Wowa vorbeigeht. Ich folgte ihm, weil ich beschloss: Da mir hier alles unbekannt ist, gehe ich in dieselbe Klasse wie Wowa. Er machte die Klassentür auf, dort saßen viele Kinder verschiedenes Alters. Ich guckte auf ihre Gesichte und verstand: Das sind jene, die in der Hämatologie-Abteilung starben. Obwohl unter ihnen auch welche waren, die meiner Meinung nach noch leben sollten (später erfuhr ich aber, dass sie damals schon tot waren). Wowa ging selbstbewusst über die Schwelle…
– Wowa, gehe nicht dorthin, dort sind alle tot, du lebst aber noch!
– Ira, mir wurde gesagt, da soll ich sein, da ist mein Platz. Guck mal, – er gab mir ein Papierchen, – da steht deutlich: Ich soll in diese Klasse rein.
– Dann warte, ich will mit!
– Zeig deine Zulassung.
Ich gab ihm ein Papierchen, das aus dem Nichts erschien.
– Nein, du darfst da nicht rein! Du musst weitergehen! – Wowa gab mir den Zettel zurück.
– Aber warum? Ich will mit dir bleiben, ich weiß nicht, was dort weiter ist, ich würde lieber hierbleiben, – ich fange irgendwie an zu weinen.
– Nein, Ira… Es wird nicht von uns entschieden, wohin wir gehen sollen… – Wowa lächelte, winkte mir zu und ging ins Zimmer…
Ich wachte auf… Es war unruhig in meiner Seele. Ich wusste genau: Irgendetwas passiert bald… Seit dem frühen Morgen ging es Wowa nicht gut… Ich sah die Krankenschwestern mit Sauerstoffkissen zu ihm laufen und Tropfe in sein Zimmer bringen. Und ich… Ich keuchte immer stärker, jede Stunde, jede Minute. So ging es, bis ich mittags wegen Atemnot das Bewusstsein verlor…
Als ich die Augen aufmachte, neigte sich ein unbekannter Man mit sehr unruhigen Gesicht über mich. Ich wollte fragen, was passierte, konnte aber nicht sprechen: Auf mein Gesicht war eine Maske gedrückt, durch die Sauerstoff in meine Lungen kam. Der Arzt drückte einen speziellen Sack und beatmete mich. Ich schüttelte den Kopf, der Arzt lächelte mir aber freundlich zu und sagte: „Bleib so liegen. Ich helfe dir zu atmen, deine Muskeln erholen sich gleichzeitig. Später ist es dir leichter, selbst zu atmen". Ich lag und blickte auf die Rundum. Auf dem Schild des Mannes las ich: „Intensivstation". Meine Mama guckte in die offene Tür, auf ihren Wangen flossen Tränen. Sie wandte ihren Blick, wenn ich auf sie guckte. Etwas passierte… Das empfand ich fast automatisch. Ärzte der Intensivstation gingen weg, ich hörte sie im Flur der Oberärztin sagen: „Noch ein bisschen – und das Mädchen hätte sterben können".
Mama kam ins Zimmer zurück… Sie wischte sich sorgfältig die Tränen. Als ich sie sah, erinnerte ich mich sehr deutlich daran, dass ich vor dem Bewusstverloren hörte, wie Tanta Tanja im Flur schreite: „Hilfe!!!" In mir ist alles kalt geworden, ich blickte in Mamas Augen und fragte: „Wie geht es Wowa?" Sie schüttelte den Kopf und weinte. Mehr musste sie nichts sagen, ich verstand alles. Ich weinte nicht… Dafür hatte ich keine Kräfte – weder geistige noch körperliche. Mit einer eiskalten Stimme fragte ich: „Wann?" Mama sah mich mit einem Schuldgefühl an und antwortete: „Es ist euch beiden fast gleichzeitig schlecht geworden. Wowa eine halbe Minute früher. Man rief Ärzte aus der Intensivstation zu ihm, und als sie kamen, atmetest du aber nicht mehr. Die Ärzte entschieden sich, dich zu retten"… Mama konnte nichts mehr sagen, Schluchzen erstickte sie. Und ich erinnerte mich deutlich an meinen Nachttraum und ans Zimmer, in das ich mit Wowa eintreten wollte, er ließ mich aber nicht… „Es wird nicht von uns entschieden, wohin wir gehen sollen"… Diese Worte beschrieben das Geschehene am besten. Nicht wir (Wowa und ich) trafen die Entscheidung, wer am Leben bleibt, diese Wahl haben die Reanimatologen für uns getroffen. Und ich lebe weiter, Wowa aber nicht. Unerträgliche Schmerzen zuckten durch mich, ich weinte und schrie: „Warum ich?!" Ich schämte mich, weil ich weiterlebe, weil Wowa "abgeschrieben" wurde, ohne dass man ihm eine Chance gab. Wir hatten eine Chance für uns zwei, und sie wurde mir gegegeben. Warum nur mir??? Warum wurde mein Leben mit Wowas bezahlt?!
Später erfuhr ich, dass es in der Abteilung nicht der erste Fall ist (und ich fürchte, nicht der letzte), dass Ärzte der Intensivstation entscheiden müssen, wer von den Kindern gerettet werden soll… Wie in einem Krieg. Das eine Kind lebt weiter, das andere stirbt. Viele Jahre sind seitdem vergangen, mich quält aber immer noch die Frage: „Warum überlebte ich damals, nicht mein Freund?"…
Die Seele loslassen…
An der Tür des Zimmers hängt ein weißes Betttuch. Es ist tiefe Nacht, dort brennt aber Licht. Durch das Betttuch ist eine Silhouette der Frau zu sehen, die neben einem Bett sitzt. Sie sitzt fast unbeweglich, nur ab und zu fällt ihr Kopf auf die Brust – sie schläft seit vielen Tagen nicht und manchmal siegt die Müdigkeit. Sie fällt für wenige Sekunden in den Schlaf, wacht aber sofort mit Schrecken auf. „Ich darf nicht schlafen, ich darf nicht! Ich muss aufpassen!" – das sagt sie sich immer wieder. Sie sitzt neben ihrer Tochter. Neben ihrer todkranken Tochter. Das Mädchen ist blass und völlig erschöpft. Seit zwei Wochen kann es nicht schlucken. Und mit jedem Tag steigt die Atem-Insuffizienz. Das Kind stirbt qualvoll an Erstickung.
Und die Ärzte? Sie haben den Tumor als inoperabel anerkannt. Alles, was sie vorschlagen konnten, war eine tödliche Schlafmittel-Dosis, „um die Seele schneller loszulassen". Das nannte der Arzt „einfacherer Ausweg", damit sich weder Natalia noch ihre Tochter weiter quälen. Natalia hat darauf verzichtet. Sie glaubte immer noch daran, dass ein Wunder passiert und ihr Mädchen auf dem Weg der Besserung kommt. Nur dieser Glaube an ein Wunder gab ihr genug Kräfte, mehrere Tage pausenlos neben dem Bett zu sitzen.
Das Mädchen war im halbbewussten Zustand. Wegen ständigem Sauerstoff-Mangel war sein Bewusstsein verschwommen, mal fiel es in etwas wie Schlaf, stöhnte mal leise. Es sprach fast nicht, das forderte zuviel Energie, die es nicht hatte. Vor einer Woche wurden alle unterstützenden Infusionen abgebrochen. Ärzte fanden alle lebenserhaltenen Maßnahmen für das Mädchens überflüssig. Und jetzt quälte es sich nicht nur wegen Atemnot sondern auch wegen des schrecklichen Durstes. Manchmal flüsterte es im Schlaf: „Wasser, Wasser"… Das Wasser schien ihm zu existieren, es träumte nicht davon, sondern den unerträglichen Durst zu beschwichtigen. Das konnte es aber nicht und weinte nur hilflos, als es das Wasser fließen hörte.
Diese Nacht ging es dem Mädchen besonders schlecht. Es atmete schwer und hörte ab und zu mit dem Atmen für 10-15 Sekunden auf. Die Mutter guckte pausenlos auf den sich kaum bewegenden Brustkorb. Und plötzlich begann die echte Hölle: Das Mädchen atmete schwerer und fing an, langsam blau zu werden. Das Atmen hörte auf… Die Mutter guckte mit Entsetzen auf das immer blauer werdende Gesicht. Sie wusste sofort, was zu tun ist, sprang vom Stuhl und fing mit der „Mund zu Mund"-Beatmung an. Sie rief niemanden um Hilfe, weil sie auch wusste: Es würde zwecklos sein. Die Oberärztin verbot alle aktiven Maßnahmen zur Lebensunterstützung. In entwickelten Ländern heißt das „passive Euthanasie", gilt als ungesetzlich und ist sogar strafbar. Bei uns heißt das beschönigend „die Seele loslassen". Natalia atmete immer wieder Luft in die Lungen ihrer Tochter. Sogar jetzt glaubte sie, dass der Kampf sinnvoll sei. Nach zehn Minuten machte das Mädchen selbständig einige Atemzüge. Aber nach einer halben Stunde hielt die Atmung wieder an. Und wieder – „Mund zu Mund", bis zum Schwindel, bis Dunkelheit in den Augen… Und nur ein Gedanke: Nicht fallen lassen, Bewusstsein nicht verlieren, denn die Tochter braucht diese Luft, die sie selbst nicht einatmen kann. Der Kampf dauerte mehrere Stunden. Und als das Mädchen nach einem der Atemstillstände die Augen aufmachte, gab es so ein Schmerz in seinem Blick… „Mama, lass mich, mach das nicht mehr… Lass mich sterben… Ich kann nicht mehr!" – Die Worte der qualvoll sterbenden Tochter waren kaum zu hören und seine Augen waren mit Tränen getrübt.
Die Mutter verbarg ihr Gesicht in den Händen und ging vom Bett weg. Sie hörte das Mädchen zum letzten Mal schwer einatmen und abklingen. Natalia schluchzte lautlos und biss sich die Lippen blutig, ohne dabei die Schmerzen zu fühlen. Sie saß wenige Minuten ihr Gesicht in den Händen haltend, plötzlich sprang sie vom Stuhl. Auf ihrem Gesicht war die Entschlossenheit… sie stürzte zu ihrer Tochter. Die Tochter war schon blau, es gab keinen Herzschlag. Das Herz blieb stehen. Das war das Ende. Aber die Mutter ahnte, dass sie noch eine Möglichkeit hat, alles zu ändern. Und sie stürzte auf ihreTochter, um sie zu reanimieren. Ohne Emotionen, wie eine Maschine: fünfzehn Pressungen auf den Brustkorb, zwei Einatmungen. Und so weiter – ohne Ende. Sie achtete nicht auf die Zeit, dachte nicht darüber nach, wie geschädigt das Gehirn der Tochter nach so einem langen Herzstillstand sein wird. Sie wusste nur Eines: Sie muss das Mädchen reanimieren! Und nachdem sie die nächste Einatmung gemacht hatte, legte sie ihre Hand auf den Hals des Mädchens und fühlte den Puls. Das Herz schlug wieder!!! Sie machte die Beatmung weiter mit so einem Enthusiasmus, ob als sie im Kampf gegen die Krankheit gewonnen hätte. Als ob sie jetzt ihr Mädchen wieder zum Leben gebracht hätte. Die Krankheit ist weg, ihre Tochter wird wieder gesund!
Als das Mädchen wieder zu Bewusstsein kam, fühlte es im Mund diesen Blut-Geschmack. Damals wusste es nicht, dass es das Blut ihrer Mutter ist, nicht ihr eigenes. Ihre Mutter biss sich Lippen bis zum Blut, während sie das Sterben ihres Kindes sah. Die Tochter wusste eines mit Sicherheit: Ihre Mutter brachte sie wieder ins Leben zurück. Wieder hierher, in diese Welt von endlosem Atemnot und Durst. Damals hat es seine Mutter dafür fast gehasst. An die Wunschvorstellung ihrer Mutter von einem langen und glücklichen Leben, glaubte es nicht. Es glaubte nicht, dass diese dem Tod abgewonnene Nacht die alles entscheidende Rolle spielt.
Aber die Mutter… Es sah so aus, ob als sie gewusst hätte, wegen welcher Zukunft sie gegen Tod kämpfte. Ob als sie es geahnt hätte, dass ich ihr nach 7 Jahren dafür danke, dass sie damals meine Seele nicht losließ. Dafür, dass ich Dank ihres fanatischen Glaubens eine Möglichkeit bekam, diese sieben Jahre trotz des Tumors zu leben. Sieben Jahre des schweren Kampfes gegen die heimtückische Krankheit, aber trotzdem sieben Jahre des Lebens. Jetzt sitzt Mama auch manchmal noch in der Nacht neben mir und beobachtet mein Atmen. Sie weiß, dass noch viele Schlachten um mein Leben in der Zukunft kommen werden. Aber ihr ist auch deutlich klar, dass sie den Faden meines Lebens nie mehr loslässt. Sogar wenn die Situation hoffnungslos aussieht. Sogar wenn das Herz stillsteht, lässt sie meine Seele nicht los…
Die Wand hochklettern
„Wieder, wirklich schon wieder!!!" – Dieser Schrei von Tante Sweta klang im Flur. Mama brachte mich gerade mit einem Rollbett zum Fernseher, als wir diesen Schrei hörten. Ich sah Tante Sweta neben ihrem Zimmer stehen und versuchen, auf die Wand zu klettern… Sie kratzte sich die Finger bis Blut, rote Streifen blieben auf der gestrichenen Wand… Und sie griff die glatte Wand mit Nägeln weiter und versuchte hochzusteigen. Wohin? Wozu? Das wusste ich nicht, wahrscheinlich wusste sie selbst auch nicht. Aus ihrem Zimmer klang Dima’s Schrei: „Mama, bitte nicht, Mama…" Sein Schrei wurde ab und zu durch Schluchzen unterbrochen. Und auch mit Husten. Meine Mama ließ mich im Rollbett im Flur und lief ins Zimmer zu Dima. Ich hörte sie ihn beruhigen, er schrie aber weiter: „Was ist mit Mama?" Noch einige Mütter aus der Abteilung liefen zu Tante Sweta und versuchten, sie von der Wand wegzuziehen. Sie kämpfte aber und warf sich zurück. Immer wieder griff sie die Wand mit Nägeln und schrie: „Ich kann nicht, ich kann nicht mehr!!!" Ich hörte jemanden im Arztzimmer die Intensivstation anrufen. Und Tante Sweta schrie und kletterte immer weiter an der Wand. Von diesem Anblick an wurde alles kalt in mir, ich wollte die Augen schließen und das nicht mehr sehen; ich wollte die Ohren zumachen, um ihren Schrei und Dima’s Weinen nicht zu hören. Ich wollte weg aus dieser Hölle! Aber ich musste dort hinschauen, sowie noch einige andere Kinder… Wobei es so aussah, dass es kein medizinisches Personal in der Abteilung gäbe… Eine Krankenschwester lief um Tante Sweta herum und versuchte, ihr ein Glas Beruhigungsmittel unterzuschieben.
Einige Mütter versuchten immer wieder, Tante Sweta von der Wand fortzuziehen. Sie schluchzten auch… wegen eigener Machtlosigkeit, Beleidigung, Angst. Meine Mama lief aus Dimas Zimmer … ihre Hände waren blutbefleckt. „Sweta, wo sind die Medikamente?" – Sie ziepte Tante Sweta mit der Hoffnung, erfragen zu können, wo die rettenden Medikamente für Dima liegen. Das war aber in diesem Moment zwecklos. Tante Sweta zuckte in Hysterie, weil ihr Sohn wieder Nasenbluten hatte und es nur vier Thrombozyten gab. Das bedeutete, viele Tage lang lässt sich diese Blutung nicht stoppen. Das bedeutete aber auch, man muss wieder irgendwo Blutspender suchen. Und wo kann man sie finden, wenn jede Woche eine Transfusion in riesigen Mengen notwendig ist… Ein Nasenbluten – das bedeutet wieder eine Nasentamponade unter Allgemeinnarkose, nach der sich ihr Dima lang und schmerzhaft wiederfindet. Und er hört wieder auf zu atmen… Sie hat keine nervlichen Kräfte mehr, das alles wieder durchzustehen. Das war über ihre Kräfte!
Die Fahrstuhltür klopfte und Ärzte aus Intensivmedizin liefen in die Abteilung. Die Oberärztin kam ihnen entgegen, flüsterte etwas ins Ohr und ging wieder ins Ärztezimmer. Unter meinem Blick senkte sie die Augen. Sie senkte einfach die Augen… es kam ihr kein Gedanke, mich so zu verschieben, dass ich diese schrecklichen Dinge nicht sehe. Und in dieser Situation durfte ich nicht jemanden anderen darum bitten.
Die Reanimatologen haben Tante Sweta trotz ihres Widerstands etwas gespritzt. Nach einer halben Stunde fing sie an, ruhig zu werden. Erst nach einer halben Stunde! Und diese endlosen dreißig Minuten schrie sie genauso weiter und kletterte an der Wand. Wieder und wieder… und wir sahen und hörten das alles. Uns Kindern ist entsetzlich klar davon geworden, was unsere Krankheit mit unseren Müttern macht. Und uns war es auch peinlich dafür, dass wir krank sind, dass wir unsere Lieben zu solchen Leiden verurteilten. „Wenn morgen meine Mutter genauso die Wand hochsteigt, ist das nur meine Schuld!" – So dachte in diesem Moment jeder von uns…
Die eingeschlafene Tante Sweta brachte man in mein Zimmer und legte sie dort auf ein Bett. Jemand von den Müttern blieb dort, um auf sie aufzupassen, damit sie beim Aufwachen keinen Quatsch macht. Alle anderen eilten, Dima zu helfen. Meine Mama lief an mir vorbei ins Zimmer und kehrte mit ihrem Portmonee zurück. Dima brauchte Medikamente und niemand wusste, wo Tante Sweta ihr Portmonee hinlegte. Mama brachte ihr Geld, ohne einen Augenblick nachzudenken. Ich sah noch jemanden ein Portmonee zu bringen. Eine der Mütter zog die erste greifbare Jacke an, griff das Geld und lief zur Apotheke. Meine Mama überredete Dima ruhig zu werden. In der Nacht saß sie bei ihm, als er nach der Narkose fantasierte. Der Tante Sweta wurde immer wieder ein Schlafmittel gespritzt, ohne sie aufwachen zu lassen. Tante Nadja saß an ihrer Seite, ohne das Licht auszuschalten. Außerdem pflegte sie ihren eigenen kranken Sohn und mich. Sie drehte mich um, gab mir Essen und Trinken. Tag und Nacht schliefen Tante Nadja und meine Mama nicht, danach fing eine der anderen Mütter an, Dima zu betreuen, Tante Sweta wurde auch von jemandem anderen weiter betreut. Noch drei Tage wurde es ihr verboten, sich dem Zimmer zu nähern, wo ihr Sohn lag. Zur Toilette wurde sie begleitet und blieb keine Sekunde allein. Als sie einmal an der Wand vorbeiging, auf der sie versuchte hochzuklettern, warf sie einen Blick auf die Farbkratzer und ihre bis zum Blut zerbrochenen Nägel und fragte zaghaft: „Habe ich das wirklich gemacht?.." Als es ihr endlich gesattet wurde, hinein ins Zimmer zu kommen, blickte Dima auf sie, sagte sehr ruhig: „ Wenn du noch mal so etwas machst, springe ich aus diesem Fenster" – und weinte. Tante Sweta weinte auch, aber ganz anders, leise und hilflos. Sie umarmte ihren Sohn, drückte ihn an ihre Brust und fühlte eine brennende Scham dafür, dass sie ihr Kind in so einem schweren Moment ohne Hilfe ließ. Es wurde von anderen gerettet, von jenen, die nicht weniger eigene Probleme haben. An diesem Abend ging sie zu jeder Mutter, die ihr oder Dima half, nahm leise ihre Hände und drückte sie zu ihrem Herzen. Später wurde von niemanden mit einem Wort erwähnt, wie sie versuchte, an der Wand hochzusteigen, um ihren Zustand der höchsten Verzweiflung zu verdrängen…
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